Kommentartext von Stefan Grill


Als Reisende begeben sich Protagonistin und Filmautor auf einen Weg, dessen erzählerischer Ursprung 39 Jahre zurückliegt - Ägypten. Die Geschichte handelt von der heute über 70 Jahre alten Kunsterzieherin, Semiotikerin und Ziegenhirtin Paola Beate von Pückler. Damals war sie zusammen mit ihren beiden Kindern aus Kairo nach Deutschland geflohen, weil sie sich von den Zwängen ihrer Ehe befreien wollte. Nun, da so viele Jahre vergangen sind, begibt sie sich zurück an die Lebensorte ihrer Vergangenheit.

Der Film setzt vor allem auf die Kraft seiner Bilder. Auf einen erklärenden – scheinbar objektiven – Sprecher wird gänzlich verzichtet. Im Dialog mit dem Autor berichtet Beate von Pückler von ihren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Indem sie über ihr heutiges und ihr vergangenes Leben reflektiert, spannt sie einen Bogen zwischen Orient und Okzident. Ihre Erinnerungen bilden die Rahmenhandlung des Films, ihre Lebensgeschichte ist der rote Faden, der die Zuschauer auf eine Reise nach Ägypten führt. Die Reisegeschichte erzählt jedoch die Kamera. Ihre Bilder lassen uns in eine Welt eintauchen, die schön und befremdlich zugleich ist. Ausdrucksstarke Momentaufnahmen erzeugen eine Nähe zu den Figuren, wie sie nur selten in Dokumentarfilmen vorzufinden ist. Sie gewähren uns einen intimen Einblick in das Leben der unterschiedlichen Protagonisten. Eine Besonderheit, die diesen Autorenfilm auszeichnet.


 
 
 
Dennoch scheint manch einen die Kommentarlosigkeit der Bilder zu irritieren. Die Vielzahl der Eindrücke werfen immer mehr Fragen nach dem Wie und Warum auf. Vieles davon lässt der Film unbeantwortet. Offen bleibt zum Beispiel, was sich genau in den Jahren zwischen dem jetzigen Leben Beate von Pücklers und ihrer Flucht aus Ägypten zutrug. Ihr Lebensweg wird nur ausschnitthaft dargestellt. Zum ersten Mal begegnen wir ihr in Al-Andalus, ihrem heutigen Wohnort. Dort bewirtschaftet sie eine kleine Ziegenfarm an der Küste Andalusiens. Unvoreingenommen wird der Betrachter mit ihr konfrontiert. Erst nach und nach erfahren wir durch ihre eigenen Schilderungen von den Beweggründen, die sie dazu gebracht haben, ein zur Zivilisation vergleichsweise einfaches Leben auf einer Farm mit Ziegen und vielen anderen Tiere in einer zwar kargen aber gleichzeitig atemberaubend schönen Landschaft zu führen. Ausschlaggebend war eine Krebserkrankung, die dem Leben Beate von Pücklers - wieder einmal - ein neue Richtung gab. Von den heilsamen Kräften der Ziegenmilch überzeugt, hat sie sich für diese Lebensform entschieden. So berichtet sie, wie sie gelernt hat sich selbst neu wahrzunehmen, die Zeichen, die ihre Körper setzt, besser zu verstehen. Sie erzählt, welchen Einfluss die Landschaft und die tägliche Arbeit auf ihre eigene Wahrnehmung und ihren Körper haben und wie sie es versteht mit dem Krebs zu leben.

Bereits in diesen ersten Szenen wird deutlich, welche Wirkung das Fehlen eines erklärenden Erzählers hat. Anstatt den scheinbar plausiblen Schlussfolgerungen eines Sprechers unwillkürlich zu folgen, steht zu Beginn des Films ein Lebensporträt gemalt in Bildern und Äußerungen, die uns zusammen mit der Protagonistin von der Abstraktheit zivilisierten Lebens auf eine konkretere Form des Daseins stoßen. Diesem Prinzip bleibt sich der Film in seiner ganzen Länge treu, was sich für die Zuschauer auszahlt, wenn wir - von der Kamera behutsam geführt - den Sprung von der beschaulichen andalusischen Küste in die geschäftigen Straßen Kairos machen und uns in einer ganz anderen Welt wiederfinden. Dort erfahren wir in zahlreichen menschlichen Begegnungen mehr vom Leben in einem Land, das uns aus westlicher Perspektive wohl immer noch als fremd erscheint. Hier beginnt die eigentliche Reise – zurück in das Land, in dem Paola Beate einst mit ihrer Familie gelebt hatte, konfrontiert mit ihren eigenen auch schmerzvollen Erinnerungen.
 
 
Das Reisemotiv jedoch hat einen doppelten Charakter. Es ist eine Spurensuche nach den eigenen Wurzeln. Beate von Pückler selbst bemerkte über das Reisen, dass „die Reisenden nicht nur der Fremde in fremden Ländern [begegnen], sondern zugleich auch der eigenen Fremde“. Für Sie bedeutet das, sich mit den Anteilen der eigenen Fremde zu konfrontieren, die in der Begegnung mit dem Unbekannten plötzlich aus der Vergessenheit wieder auftauchen. Und genau das geschieht, als sie in Kairo die Stätten ihres damaligen Lebens wieder betritt. Dort ist sie selbst davon überrascht, dass die alten Kränkungen, von denen sie glaubte, sie überwunden zu haben, wieder hochkommen. Sie erzählt, wie sie damals als verrückt bezeichnet wurde, als Ehefrau und Mutter zweier Kinder auch noch zu studieren, wie sie sich all der Angriffe ihres sozialen Umfelds wegen bei gesellschaftlichen Anlässen in Schweigsamkeit hüllte. Schließlich erfahren wir von ihrem Entschluss, nach der Gewalterfahrung in ihrer Ehe, zusammen mit ihren Kindern das Land, das sie so sehr liebte, letztlich zu verlassen. Die Begegnung mit den Orten ihrer Vergangenheit ließen in ihr fremd gewordene Elemente ihrer Erinnerung aus der Vergangenheit auftauchen.

In diesem Sinn hatte sich die Reise nach Ägypten zu einer Spurensuche entwickelt, zu einer Suche nach den Wurzeln ihres eigenen Lebens. In einem anderen Sinn sollte die Reise Beate von Pückler auf die Spuren eines ihrer Vorfahren führen: Herrmann Fürst von Pückler-Muskau. Bereits zu Lebzeiten eine schillernde Figur machte er sich einen Namen als Park-Gestalter, Dandy, weitgereister Abenteurer und liberaler Schriftsteller. Als literarisches Ergebnis seiner Orientreisen erschien 1844 "Aus Mehemed Alis Reich", ein Reisebericht, der bis heute noch als ein gültiges Zeugnis dieser Zeit gilt. Schon damals zeichnete er ein anderes Bild vom Orient. Während Mehemet Ali, der Ägypten nach europäischem Vorbild modernisierte, im Westen gemeinhin als Despot verschrien war, stellte Pückler-Muskau mit seiner Darstellung die seiner Meinung nach falschen Interpretationen von Mehemed Alis Reich in der deutschen Öffentlichkeit wieder richtig. Seinen Spuren folgt die Ur-Ur-Nichte, wenn sie ihre eigenen Reiseerfahrungen niederschreibt und den Zuschauer an ihren Reflektionen teilhaben lässt.

 
     
 
Dementsprechend folgt der Dokumentarfilm auch nicht der fatalen Logik einer angeblich kritischen Berichterstattung über einen bedrohlichen islamischen Fundamentalismus, obwohl die Dreharbeiten kurz nach den Anschlägen des 11. September stattfanden. Im Vordergrund steht vielmehr das Alltägliche, die Begegnung mit den Menschen und ihren Lebensgewohnheiten. Die Szenen auf dem Basar und die Bilder vom Leben im nächtlichen Kairo geben uns eine Vorstellung von der Sinnlichkeit, die das Land auf den westeuropäischen Reisenden ausüben muss. Die Begegnungen während einer Kamelreise am Rande der Wüste oder das Porträt eines Palmenbauern zeugen von der Lebensfreude der Menschen, aber erzählen auch von deren Sorgen und Nöten. Immer wieder begegnet man dem Tod, der als etwas ebenso Alltägliches erscheint, wie das Leben selbst. Es ist das "Sowohl als Auch", das sich im Film bei näherer Beobachtung immer wieder zeigt und das aus westlicher Perspektive vielleicht fremd, paradox und unverständlich erscheint.

Erfrischend bricht dieser Dokumentarfilm mit unseren Medienklischees und fordert den Zuschauer heraus. Er zeigt eine andere Wirklichkeit, eine, die zwar aus einer stark subjektiven Perspektive aufgenommen wurde, weil es eine rein objektive Sichtweise nicht geben kann, die aber nahe an den Menschen bleibt. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten. Indem im Film aber vor allem die Bilder sprechen, auf Erklärungen verzichtet wird, können möglicherweise Grenzen überschritten werden. Die Sprache dieser Bilder kann helfen, das lähmende Schweigen der Verständnislosigkeit zu überwinden. Und wer weiß, es mag auch an der Zeit sein, diejenigen Bilder zu revidieren, die aus orientalischer Perspektive vom Westen gezeichnet werden.


Stefan Grill